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Kein Buch, sondern ein Erlebnis: „Die Brüder Karamasow“

Ich habe schon einige Werke von Dostojweskij gelesen und hatte immer Mühe mich in der Mitte der Werke durch Abschnitte durchzukämpfen, die ich als zu langmatig empfand (Dostojewskij, der häufig pro Seite bezahlt wurde, „streckte“ seine Romane gelegentlich), deswegen entschied ich mich bei „Die Brüder Karamasow“ für ein Hörbuch.

Doch meine Vorsicht war bei diesem Werk fehl am Platz. Die Brüder Karmasow fesselt von Anfang bis zum Schluss. Im Zentrum des Romans steht vor allem Alexei („Aljoscha“) Karamasow, der Jüngste der drei Söhne von Fjodor Karamasow. Fjodor Karamasow ist ein Säufer, Lüstling, Geizhals und Spötter. Ein furchtbarer, kaum zu ertragender Mann, so dass sich dem Leser (oder Hörer) die gleiche Frage aufdrängt, die der älteste der drei Brüder, Dmitri („Mitja“) schließlich ausspricht: Warum sollte ein solcher Mann überhaupt am Leben bleiben?

Der Vater tut nun auch sein bestes, um die sowieso schon angeschlagene Liebesbeziehung seines Sohnes weiter zu untergraben, indem er um die gleiche Dame buhlt wie sein Sohn. Doch nicht nur das, er prahlt damit bei der ersten Zusammenkunft „der Familie“ nach Jahren. Man trifft sich im Kloster, dessen Mitglied Alexeij werden will. Bald geschieht auch das Drama, dass von Anfang an in der Luft schwebt: Der Vater wird ermordet aufgefunden, und alle Indizien sprechen dafür, dass es gerade der 28-jährige Mitja war, der den Mord begangen hat. Hat er doch wenige Tage vor dem Mord selbst überall herumposaunt, dass er am liebsten seinen Vater töten würde… Soweit der Ausgangspunkt des Romans, der nun sehr viele Seitenwege einschlägt. Sehr ausführlich wird das Leben von Starez Sossima, einem Art Eremetien-Abt geschildert, der der Mentor von Aljoscha ist. Der Starez schildert auf seinem Sterbebett sein Verständnis von Schuld, Vergebung und Verantwortung. Damit findet sich ein Gegenentwurf zum Konzept zum zweiten Bruder Iwan, der Atheist ist. („Ich leugne gar nicht, dass es einen Gott gibt, aber diese von ihm geschaffene Welt lehne ich ab. Ich gebe ihm mein Eintrittsbillett in diese Welt zurück“). Sein Modell schildert Iwan dem gläubigen Aljoscha in seiner Dichtung vom Großinquisition: Hier kehrt Christus während der Hochphase der spanischen Inquisition als Wundertäter auf die Erde zurück und wird natürlich nach dem ersten vollbrachten Wunder vom Großinquisitor inhaftiert, der nun Christus darum bittet, sich aus der Kontrolle der Kirche zurückzuhalten, die man nun im Griff hätte. Für Iwan ist diese Begebenheit nur die Begründung für seinen Nihilismus: „Alles ist erlaubt!“. In seiner Legende sieht er eine überzeugende Argumentation für den Nihilismus selbst aus religiöser Sicht.

Der Rahmen des Kriminalfalls ist eine intensive Studie der Frage nach Gott. Dabei sollte man von Dostojewski keine vorschnellen und einfachen Antworten erwarten. Dennoch fallen sie deutlich genug aus: Durch den Mord am Vater kommt der Nihilismus Iwans an ein hartes Ende: Er wird mit dem Abgrund seines Nihilismus („Alles ist erlaubt!“) konfrontiert, als ihm der Diener und uneheliche Sohn seines Vater Pawel Smerdjakow gesteht, dass er (Pawel) den Mord begangen hat, um Iwan zu beeindrucken, denn er immer bewundert hat. Alexeis Glaube erfährt die Bewährungsprobe nicht im tragischen Tod seines Vaters, sondern als Gott auf seine Bitten (oder Erwartungen?) an Gott schweigt, als der verstorbene Starez Sossima ungewöhnlich bald nach seinem Abscheiden anfängt, „zu stinken“, was so gut wie alle Mitglieder des Klosters als Zeichen eines unheiligen Lebens von Sossima deuten.

Das sind zwei Beispiele für viele Seitenpfade, die die Erzählung legt. Nicht immer ist mir die Bedeutung für die Haupterzählung klar oder eindeutig. Manche Erzählungen stehen teils sehr selbstständig da. So ist die evangelikal-orthodoxe Abrechnung mit dem Katholizismus die sich in der Erzählung Iwans vom Großinquisitor findet, auch als eigenständiges Werk bekannt. Dennoch entgehen einem wichtige Eindrücke, wenn man nur diesen Teil kennt. So ist für Iwan diese Geschichte nicht eine Abrechnung mit dem Katholizismus, sondern mit Gott. Zudem steckt Iwan selbst in einer Problematik: Seinen Ruhm als Journalist und Schriftsteller verdankt er einer scheinbar radikal-christlichen Schrift über Ethik und Kirchenrecht. Mit kühler Berechnung veröffentlich er Thesen, die zwar dem „Zeitgeist“ entsprechen, die er aber nicht im geringsten vertritt oder achtet.

Einige Kapitel habe ich geradezu mit angehaltenem Atem gehört. So den Besuch des Teufels bei Iwan, nachdem er von Pawel Smerdjakow das Mordgeständnis mitgeteilt bekommt oder die Diskussion des Vaters mit Alexej über Höllenstrafen. Dieser Roman ist eine geschickte christliche Apologetik. Schließlich sind am Ende des Buches sowohl Atheisten (Iwan) wie auch Romantiker (Mitja) am Ende mit sich und mit der Welt. Alexej jedoch hält eine kurze Rede an ihn umgebende Schüler, die voller Hoffnung und Optimismus ist. So gelingt Dostojewski das Meisterstück, dass er die sowjetischen Sozialisten mit der Frage nach Gott konfrontiert. Schließlich war Dostojewskis Werk immer Schullektüre und bei allem Ausradieren des Religiösen, ließ man sich doch auf Dostjoweskis Romane ein.

Das Buch endet mit der Gerichtsverhandlung. Hier gibt der glänzende Verteidiger Mitjas sein Bestes um die Unschuld seines Mandanten zu beweisen. Und obwohl er nicht an die Unschuld seines Mandanten glaubt, rekonstruiert er das Verbrechen nahezu exakt. Er sagt die Wahrheit, obwohl er die Absicht hat, zu lügen. Ganz anders ergeht es dem Staatsanwalt. Dieser ist überzeugt von der Schuld Mitjas und deutet die Indizien sämtlich auf die naheliegende und doch falsche Weise. Er sagt die Unwahrheit, ganz in der Absicht, die Wahrheit zu ermitteln. Welch tragischer Justizirrtum!

Viele der Themen aus „Bratja Karamasowy“ findet man auch in anderen Werken Dostojweksis. Die Frage nach Wahrheit und Verantwortung in „Schuld und Sühne“ (bzw. „Verbrechen und Strafe“), die Frage nach Freiheit und Selbstbestimmung in „die Dämonen“ und die Frage nach Idealen in einer gebrochenen Welt in „der Idiot“. Dieses Buch, das einen Monat vor seinem Tod veröffentlicht wurde, ist ein würdiger Abschluss seines literarischen Schaffens und bringt die unterschiedlichen Themen gebündelt und hochkonzentriert zusammen.

Was ein Leser bekommt ist ein literarisches Vergnügen oder ein tiefgreifendes Erlebnis. Wenn du die Wahl hast den Europapark zu besuchen oder dieses Buch zu lesen, wähle dieses Buch! Die Dinge werden nach dem Buch nicht mehr die gleichen sein! Wer auf eine Übersetzung angewiesen ist, sollte sich um eine Übersetzung von Swetlana Geier bemühen.

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„O felix culpa“
Aus der römisch-katholischen Osternachtsliturgie

Manchmal stößt man über ein Zitat in unterschiedlichem Kontext mehrfach. So ging es mir mit einem Ausschnitt aus der Osternachtsliturgie, der mindestens provozierend formuliert ist. Da heißt es (lateinische und deutsche Fassung von hier):

O certe necessarium Adae peccatum,
quod Christi morte deletum est!

O felix culpa,
quae talem ac tantum meruit habere Redemptorem!

Oh wahrhaft heilbringende Sünde des Adam,
du wurdest uns zum Segen, da Christi Tod dich vernichtet hat.

O glückliche Schuld,
welch großen Erlöser hast du gefunden!

Der Ausruf „O glückliche Schuld“ hat es sogar zu einem Wikipedia-Artikel geschafft. Kostbar ist der dahinterliegende Gedanke, dass die Wiederherstellung des Sünders in der Erlösung in in einen höheren Stand bringt, als den er vor dem Fall besaß. Vor allem Augustinus investierte in diese Überlegungen einige Zeit und Hirnschmalz. Darunter im Enchiridion (Dem Buch vom Glauben, der Hoffnung und der Liebe). Da heißt es unter anderem: Melius enim iudicavit de malis benefacere, quam mala nulla esse permittere – Gott hielt es für besser aus dem Bösen das Gute zu wirken, als gar kein Böses zuzulassen). Entsprechend ist der Zustand des Menschen in der Herrlichkeit ein Besserer, da er nicht sündigen kann. Die Herrlichkeit von jemanden, der nicht mehr die Möglichkeit besitzt zu sündigen ist somit besser und höher, als die, von jemanden der sie kann.

Dieses unterschiedliche  Befähigung Gutes und Böses zu tun, finden wir erneut im Westminster Bekenntnis, dass sich eng an den vier Willenszuständen des Menschen orientiert, wie es Augustinus schildert, als es das Kapitel vom freien Willen beschreibt:

  • Vor dem Fall: Fähig zu sündigen
  • Nach dem Fall: Nicht fähig nicht zu sündigen
  • Nach der Wiedergeburt: Fähig nicht zu sündigen
  • In der Herrlichkeit: Nicht fähig zu sündigen

In Kürze. Ein erneuerter Blick auf die Erlösung erneuert auch unseren Blick darauf, was „echte Freiheit des Willens bedeutet“, nämlich die, mit Gottes Willen im Einklang zu sein. Oder mit den Worten des Westminster Bekenntnisses (Artikel 9.5):

„Der Wille des Menschen wird erst im Stand der Herrlichkeit vollkommen und unveränderlich frei gemacht, nur Gutes zu tun“

Die zwei Autoren, die „felix culpa“ erwähnten, waren übrigens, zunächst Edmund Clowney, der in seinem Werk zur Christologie zeigt, dass wir erst nach dem Fall die Herrlichkeit Christi erfahren und zweitens Helmut Thielicke in einem Predigtband über die Gleichnisse Christi (unter dem Titel „Das Bilderbuch Gottes“ erschienen).