Wer heute über die Kunst der Predigt nachdenkt, kommt an drei Büchern kaum vorbei: D. Martyn Lloyd-Jones’ Die Predigt und der Prediger, Charles Spurgeon Ratschläge für Prediger – und, in neuerer Zeit, Bryan Chapells Die Auslegungspredigt mit Fokus auf Christus. Wenn die beiden erstgenannten Werke als Klassiker des 19. und 20. Jahrhunderts gelten, so darf Chapells Buch als das maßgebliche Handbuch für eine neue Generation von Predigern bezeichnet werden. Umfang, Tiefe und Praxisnähe machen es zu einem Werk, das im besten Sinne „zeitlos“ ist – gründlich reformatorisch und doch zeitgemäß.

Ein Werk von beeindruckendem Umfang und Struktur
Schon der erste Eindruck verrät: Dieses Buch ist kein bloßer Ratgeber oder eine Sammlung von Tipps, sondern ein vollständiges, systematisch aufgebautes Lehrbuch der Homiletik. Mit über 500 Seiten ist es etwa so umfangreich wie Lloyd-Jones und Spurgeon zusammen. Es ist in drei große Hauptteile gegliedert:
- Grundprinzipien der Auslegungspredigt – die theologische und geistliche Basis.
- Die Vorbereitung der Auslegungspredigt – das praktische Handwerkszeug.
- Eine Theologie der christuszentrierten Verkündigung – die geistliche Zielrichtung.
Dazu kommen über 100 Seiten Anhang mit Beispielpredigten, Gliederungshilfen, Mustern, Hinweise zur Rhetorik und einem gründlichen „Auswertungsbogen“, der Predigern hilft, sich selbst zu prüfen und zu wachsen.
Jedes Kapitel beginnt mit einer inhaltlichen Übersicht und Lernzielen und endet mit Fragen zur Wiederholung und praktischen Übungen – ein klarer Hinweis auf Chapells jahrzehntelange Erfahrung als Dozent am Covenant Theological Seminary. Man hat beim Lesen immer wieder das Gefühl, in seinem Seminar zu sitzen und direkt von einem Lehrer zu lernen, der nicht nur über das Predigen referiert, sondern selbst ein Prediger ist.
Teil I – Die geistliche Grundlage der Auslegungspredigt
Im ersten Teil stellt Chapell das Fundament klar: wahre Verkündigung besteht aus Autorität und Erlösung. Er eröffnet das Werk mit einer Diagnose unserer Zeit – dem Verlust von Autorität – und zeigt, dass nur eine biblisch begründete Auslegungspredigt dieses Loch füllen kann. Predigen bedeutet, Gottes Wort reden, nicht bloß menschliche Gedanken.
Ein zentrales Zitat bringt Chapells Definition auf den Punkt:
„Eine Auslegungspredigt kann man also als eine Botschaft definieren, deren Zusammensetzung und Gedanken aus einem biblischen Text entwickelt werden. Sie umfasst den Umfang des Textes, um zu erklären, wie die Bestandteile und der Kontext des Textes durch den Heiligen Geist, der den Text inspirierte, dauerhafte Prinzipien für bibeltreues Denken, Leben und bibeltreue Anbetung enthüllen.“ (S. 30)
Diese Definition betont, dass wahre Predigt nicht bloß exegetische Analyse oder moralische Anwendung ist, sondern die lebendige Vermittlung göttlicher Wahrheit, die durch den Geist in Herz und Leben hineinwirkt.
Besonders eindrücklich sind Chapells Aussagen über den geistlichen Charakter des Predigers:
„Keine Wahrheit verlangt lauter nach pastoraler Heiligkeit wie die Verbindung zwischen dem Charakter eines Verkündigers und der Aufnahme seiner Predigt.“ (S. 41)
Und ebenso demütigend wie tröstlich:
„Wir sind nur der ›zweite Verkündiger‹; der erste und letzte ist der Heilige Geist, der zuerst sein Wort gab und es auch in den Herzen der Hörer lebendig macht.“ (S. 33)
Diese Haltung zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: Chapell plädiert für technische Exzellenz mit tiefer geistlicher Abhängigkeit.
Der Schlüsselbegriff seines Ansatzes, der das ganze Buch durchzieht, ist der sogenannte „Fallen Condition Focus“ (FCF), den Chapell folgendermaßen definiert:
„Der Gefallene-Zustand-Fokus (G-Z-F) ist der gemeinsame Zustand des Menschen, den heutige Personen mit denen teilen, an die der Text ursprünglich geschrieben wurde, und der die Gnade des Bibelabschnittes für Gottes Volk erforderlich macht, damit sie ihn verherrlichen und sich an ihm erfreuen können.“ (S. 58)
Die deutsche Übersetzung wirkt etwas sperrig, weshalb man wohl besser von einem „Fokus auf den gefallenen Zustand (FGZ)“ sprechen sollte. Dieser Gedanke ist dennoch genial: Jeder biblische Text offenbart eine Facette menschlicher Bedürftigkeit, die Gottes Gnade notwendig macht.
Chapell schreibt:
„Eine Predigt bleibt eine unfertige Predigt, bis ein Verkündiger die Aussagen und die Merkmale des Textes auf einen einzigen, großen G-Z-F ausrichtet.“ (S. 67)
Das bedeutet: Eine Predigt ist erst dann „fertig“, wenn sie den Zuhörern ihren in Sünde gefallenen Zustand aufzeigt und zugleich Gottes Erlösung in Christus verkündigt. So wird das Evangelium nicht auf moralische Appelle reduziert, sondern bleibt auf Christus fokussiert.
Teil II – Das Handwerkszeug der Predigtvorbereitung
Der zweite Hauptteil ist der umfangreichste und vielleicht wertvollste für Praktiker. Chapell behandelt hier Schritt für Schritt den gesamten Prozess der Predigtvorbereitung: vom exegetischen Studium über die Gliederung bis hin zu Illustration, Anwendung, Einleitung, Schluss und Übergängen.
Gerade dieser Teil macht das Buch zu einem Lehrgang in Predigtpraxis. Der Autor legt Wert auf eine klare, nachvollziehbare Struktur: Hauptaussage – Hauptpunkte – Unterpunkte. Seine Argumentation dafür ist nicht formalistisch, sondern geistlich begründet: Eine gute Gliederung dient der Klarheit des Evangeliums.
Er diskutiert detailliert, warum Predigten oft „zerfallen“ oder „verpuffen“ – und wie man das vermeidet. Die Kapitel über Illustrationen und Anwendung gehören zu den besten ihrer Art. Sie zeigen, wie Beispiele nicht nur schmücken, sondern erklären und Herz und Gewissen ansprechen.
Dabei hält Chapell die Balance: Er zwingt keine Methode auf, sondern stellt verschiedene Predigtstile vor und zeigt deren Stärken und Grenzen. Er schreibt mit großem Respekt gegenüber unterschiedlichen Ansätzen, wirbt aber zugleich entschieden für eine christuszentrierte Auslegung, die den roten Faden der Gnade durch die ganze Schrift hindurch sichtbar macht.
Die vielen Schaubilder, Tabellen und Übersichten (etwa die „Doppelhelix der Auslegung“) sind nicht bloße Dekoration, sondern echte Denkhilfen. Man merkt, dass der Autor auch visuell strukturiert denkt – ein Vorteil gerade für Prediger, die sich systematisch weiterbilden wollen.
Auch sprachlich ist das Buch angenehm zugänglich. Obwohl es sehr umfangreich ist, liest es sich erstaunlich leicht. Nur an wenigen Stellen hätte die deutsche Übersetzung etwas flüssiger sein dürfen – der fachliche Gehalt bleibt jedoch vollständig erhalten.
Teil III – Die christuszentrierte Verkündigung
Der dritte Teil führt alles zusammen und bildet das theologische Herzstück des Werkes. Hier entfaltet Chapell seine bekannte Lehre der „redemptive exposition“ – einer Verkündigung, die die Gnade Gottes als zentrales Thema jeder Predigt erkennt und vermittelt.
Kapitel 11 („Predigten erstellen, welche die Erlösung aufzeigen“) ist dabei besonders zentral. Hier lehrt Chapell, wie der Prediger auch in Texten, die Christus nicht direkt erwähnen, den heilsgeschichtlichen Bezug entdeckt und die Gnade Gottes freilegt. Die sogenannte „redemptive exposition“ zielt darauf ab, „die Gnade Gottes als Grundlage für das Handeln der Gläubigen darzustellen und die Zuhörer dazu anzuregen, ihre Abhängigkeit von Gottes Kraft zu erkennen.“
Diese Theologie bewahrt vor zwei Extremen: vor einem bloßen Moralismus auf der einen Seite – und vor einer billigen Gnade ohne Heiligung auf der anderen. Wahre Veränderung, so Chapell, „resultiert aus der Erkenntnis der Gnade und Liebe Gottes, die die Gläubigen motiviert, heilig zu leben.“
Ein ausgewogenes, praxisnahes und geistlich tiefes Lehrbuch
Was dieses Buch so einzigartig macht, ist die Verbindung aus Theorie und Praxis. Chapell ist weder bloß Theologe noch bloß Praktiker – er ist beides. Man spürt auf jeder Seite, dass er jahrelang sowohl Prediger als auch Lehrer war.
Die Anhänge zeigen, wie gründlich Chapell arbeitet: Neben theoretischen Vertiefungen finden sich Musterpredigten, Kommunikationshilfen, stilistische Tipps, ja sogar Vorlagen für Hochzeits- und Traueransprachen. Damit wird das Buch zu einem echten Kompendium für den gesamten Verkündigungsdienst.
Er schreibt mit einem liebevollen, väterlichen Ton. Während ich das Buch das erste Mal las, fühlte ich mich so, als würde ich in seinem Seminar sitzen. Er schreibt, wie er spricht und geht auf meine Fragen ein, die mir während des Lesens kommen. Besonders hilfreich sind die vielen Beispiele aus realen Predigten, die den Inhalt lebendig machen. Das Buch steht bei immer immer griffbereit. Schon so manches Mal war das Buch für mich ein Mutmacher, wenn ich bei der Predigtvorbereitung entmutigt aufgeben wollte.
Fazit – Das moderne Standardwerk der Predigtlehre
Wenn man nur ein Buch über Predigt lesen könnte, wäre dies das Buch, das man wählen sollte.
Bryan Chapells Die Auslegungspredigt mit Fokus auf Christus ist ein monumentales Werk, das zugleich lehrreich, praktisch und geistlich tief ist. Es verbindet homiletische Genauigkeit mit christuszentrierter Leidenschaft, theologische Tiefe mit seelsorgerlicher Weisheit.
Seine Kernaussagen lassen sich so zusammenfassen:
- Autorität: Der Prediger spricht mit der Autorität der Schrift, nicht der eigenen Meinung.
- Gnade: Jede Predigt muss den Erlösungsaspekt der Schrift entfalten.
- Struktur: Klarheit in Gliederung und Hauptaussage ist ein geistlicher Dienst an der Gemeinde.
- Abhängigkeit: Prediger bleiben „zweite Verkündiger“ – der Geist ist der wahre Prediger.
- Ziel: Das Herz der Hörer soll durch das Evangelium verändert werden, nicht durch menschliche Überredung.
Meine Hoffnung für das Buch ist, das es – ähnlich wie Lloyd-Jones und Spurgeon – Generationen von Predigern prägen wird. Doch während jene Werke aus früheren Jahrhunderten stammen, spricht Chapell in die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts hinein: Relativismus, Überinformation, moralischer Druck und geistliche Müdigkeit. Seine Antwort ist klar: Zurück zum Wort – und nach vorn zur Gnade.
„Eloquenz ist vielleicht die irdische Herrlichkeit der Verkündigung, aber ihr ewiger Herzschlag bleibt die Treue zur Botschaft.“ (S. 37)
Diese Treue prägt auch Chapells Buch selbst. Es ist ein Werk, das nicht nur lehrt, wie man predigt – sondern selbst predigt.
Erhältlich ist das Buch hier:
- 3l Verlag
- cbuch.de
- de.logos.com (digitale deutsche Ausgabe als Vorbestellung)
- logos.com (englische Originalausgabe)
Eine hervorragende Rezension, das Buch landet auf meinem Lesestappel, obwohl ich im Bereich der Homiletik immer noch große Stücke auf Motyer (Preaching!) halte! – Mich würde auch persönlich interessieren, wie du es mit der ersten Verkündigung durch den Heiligen Geist hältst. Das ist ja kein Automatismus, dass der HG mich oder einen Prediger gebraucht. Kann man hier die Gewissheit bekommen? Kann man jemanden erkennen, durch den Gott nicht spricht? Wie ist hier deine Erfahrung?