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Kompatibilität von Vorsehung und Verantwortung als Argument gegen den Calvinismus?

Was ist Kompatibilität?

Ein Sperling fällt zu Boden. Diese Tat geschieht nicht ohne Gottes Willen (Mt. 10,29-31). Und doch starb dieser Sperling ja nur, weil ein Knabe seine Schleuder ausgepackt hat und einen guten Treffer gelandet hat. – Das ist ein Beispiel, dass alle Dinge nur passieren, weil Gott es will, und doch wollen (oder wollen wir nicht) die Dinge, die wir tun und handeln frei. Selbst wenn wir gezwungen handeln, sind wir oft sehr unterschiedlichen Zwängen unterschiedlich stark ausgeliefert, die je nach Stimmung, Laune, Wetter… Wie kompliziert die Bewertung bereits unseres eigenen Willens ist, wird bereits durch eine einfache Frage deutlich: Wie ist eigentlich der zu werten, der immer launisch und eigenwillig ist? Ist er frei und autonom oder getrieben von den eigenen Begierden? Und wer treibt eigentlich die Begierden an?

Offensichtlich existiert beides immer synchron: Einerseits unsere Verantwortung, unsere Entscheidungen, unsere Wünsche, Taten, Handlungen, unser Wille und andererseits geschieht nichts von dem, was Gott nicht will, dass es geschieht, und alles geschieht nur, weil Gott will, dass es geschieht. Manche wollen hier lieber die Formulierung „weil Gott es zulässt“ haben, es ist keine Formulierung, die ich gerne nutze, aber für diesen Artikel sollte das auch eine zulässige Möglichkeit sein. Bitte lass dich nicht vom Lesen des Artikels davon abhalten. Wir können dafür auch davon sprechen, dass nichts geschieht, ohne dass Gott es zulässt. (Mehr dazu hier.)

Beides ist gleichzeitig da, ohne dass klar ist, wie es zueinander kompatibel ist. Dieses Konzept wird meistens mit dem Label „Kompatibilität“ oder „Komplementarität“, gelegentlich auch als Kompatibilismus versehen. Die im weiteren Verlauf des Artikels aufgeführten Quellen deute ich so, dass diese Begriffe häufig, wenn auch nicht immer, synonym verstanden werden. Ich wähle für diesen Artikel den Begriff Kompatibilität, weil er kürzer ist.

Das ist übrigens nicht das einzige Thema, an dem wir an Grenzen stoßen, diese zu vereinbaren: Jesus Christus, wahrer Mensch und ewiger Gott! Und das gleichzeitig! Ein Mensch, der müde wird, und auf einem Boot einschläft, und der Gott, dem Wind und Meer gehorcht. Ein Mensch, der stirbt, und als Gott Herrscher über den Tod. Beides ist vollständig kompatibel, ohne dass wir das auflösen können. Das Gleiche gilt auch für die Heilige Schrift. Christen sind überzeugt davon, dass die Bibel sowohl Gottes Wort ist und damit ewig und vollkommen, als auch Menschenwort, sodass man an jedem Bibelbuch die typischen Eigenschaften des Autors erkennen kann.

Solche Fragen sind auch nicht nur auf die theologische Sphäre beschränkt, sondern finden sich auch in der Schöpfung: Ist das Licht Welle oder Teilchen? Ist der Mensch Kreatur oder Person?


Hauptsache Kompatibilität?

Das bisher Geschilderte dürfte ziemlicher Konsens sein – Selbst viele Nicht-Christen vertreten so ein Modell, und ersetzen die Vorsehung Gottes z.B. mit dem Schicksal, einer unpersönlichen Gottheit oder Ähnliches. Im Wesentlichen kenne ich niemanden, der ernsthaft dieses Modell in Frage stellt. Vielleicht findet sich jemand unter meinen Lesern. Gerne darfst du mir dein Modell im Kommentar oder auch als persönliche Nachricht vorstellen.

Und doch wäre es ein Trugschluss zu denken, dass nichts mehr zu sagen wäre über Vorsehung und Verantwortung, wenn man bereits (irgend eine Art von) Kompatibilität vertritt. Wie wir zeigten, ist es möglich, „Kompatibilität“ zu sagen, aber nicht Gott „auf die Vorsehungsseite“ zu stellen, sondern ein unpersönliches Schicksal. Oder aber man beschwört geradezu die Kompatibilität und geht von einem emanzipierten unabhängigen Willen des Menschen aus, so als hätte dieser gar keinen Sündenfall erlebt, so als wäre die Erbsünde bedeutungslos für den Willen des Menschen.

Diese Überlegungen haben mir sehr geholfen, nicht zu verzweifeln, wenn ich in der Bibel so viel über Gottes Souveränität lese. Gerade seine Allmacht ist der Ausweg aus jeglicher Art von Determinismus. Denn Gott ist da und Gott ist frei, um mit F. Schaeffer zu sprechen (Mehr dazu hier). Wir werden nicht mehr besorgt sein über die Allmächtige Vorsehung Gottes, wenn uns klar wird, dass es die Fürsorge eines liebenden Vaters ist, der selbst unsere Haare gezählt hat. Entsprechend bekommen wir auf die Vorsehung, und auch auf die schweren Wege Gottes nur einen befreienden Zugang (wenn überhaupt), wenn wir Gott selbst besser kennenlernen.

In ähnlicher Weise lohnt es sich über „seinen Willen“ nachzudenken. Der Versuch, den Willen des Menschen als eine Art neutrale Instanz darzustellen, kann man anhand der Schrift leicht wiederlegen. Der ganze Mensch benötigt Vergebung und Erlösung, auch seinen Willen. Doch die Betrachtungen gehen weiter, z.B. ist es äußerst hilfreich, den Willen des Menschen vor und nach seiner Wiedergeburt zu betrachten. (Mehr dazu hier.)

Ich bin überzeugt davon, dass es sich lohnt, mehr über das Zusammenspiel von unserem Willen und Gottes Willen nachzudenken. Seit Jahren versuche ich mein Glück als Hobby-Gärtner und erlebe in kleinem, was Landwirte seit Jahrhunderten wiederfährt: Eine Ernte gibt es nur durch Harte Arbeit. Und doch wäre jegliche harte Arbeit umsonst, wenn Gott nicht das Gedeihen gibt. Ich konnte dieses Jahr einiges an Tomaten ernten, obwohl die Jungpflanzen von einem späten Sommerhagel beinahe zerstört wurden. Das war auch einer sorgfältigen Bemühung um die verletzten Pflanzen zu verdanken. Doch auch mein größtes Bemühen konnte meine Pflanzen nicht davor bewahren, dass die Früchte durch den starken Regenfälle des Septembers sämtlich eingingen.

Und was ist eigentlich mit unseren Gaben? Weil du so viel trainierst und Kraft darein steckst, bist du ein guter Chorsänger oder ein guter Prediger? Doch vergessen wir nicht, was Paulus lehrt: „Denn wer hat dich vorgezogen ? Was hast du aber, daß du nicht empfangen hast ? So du es aber empfangen hast, was rühmst du dich denn, als ob du es nicht empfangen hättest ?“ (1. Kor. 4,7).

Wenn Paulus von seinem eigenen Dienst spricht, gelingt es ihm sowohl Gottes Wirken wie seinen Einsatz gleichermaßen zu sehen: “Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade mir gegenüber ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir ist.” (1. Korinther 15,10).

Diese beiden Textstellen sollen zeigen, wie üblich und letztlich alle Lebenssituationen durchziehend die Tatsache sind, dass in unserem allem Wirken, Denken – was auch immer wir tun, bereits Gottes Wirken dabei ist.

Kompatibilität vs. Calvinismus?

Absicht meines Artikels ist es aber, auf eine Beobachtung einzugehen, die mir in letzter Zeit mehrfach wiederfuhr. Gerade die obigen allzu offensichtlichen Darstellung zur Kompatibilität wurden vorhergebracht, um gegen den Calvinismus zu argumentieren. Die Kompatibilität war ein zentrales Argument gegen die Lehre der Vorherbestimmung. Um ein relativ populäres Beispiel zu nenne, wäre das Buch „Vorherbestimmt?“ von Lennox zu nennen – Lennox geht zwar einerseits im Buch soweit, auch den Kompatibilismus zu bekämpfen, führt aber gleichzeitig auch aus: „Gottes Vorkenntnis oder Prädestination nicht als Minderung der menschlichen Verantwortung“ (S. 113, zitiert in dieser Besprechung des Buchs). Hinweis: Lennox scheint ein gewisses Unbehaben um die Kompabilität zu besitzen, muss aber immer wieder darauf zurückgreifen und spricht davon, dass auch wenn der Verrat Jesu vorherbestimmt war, und doch Judas vollständig verantwortlich war – das wird bei ihm zu einem zentralen Argument gegen jegliche Art an Vorherbestimmung, so als wäre, wie Carson in seiner Rezension korrekt hinweis, irgendein calvinistischer Autor der Meinung, Judas wäre frei von jeglicher Verantwortung.

Ich habe sowohl selber Anti-Calvinistischen Beiträgen beigewohnt wie auch regelmäßig davon gehört, wo gerade der Verweis auf die Kompatibilität als Hauptargument gedient hat. „Es ist nicht ein Entweder – Oder, es handelt sich in der Bibel um ein Sowohl als Auch“, sagte ein Prediger und meinte damit Vorherbestimmung und Freien Willen.

Für den Redner bedeutet das dann meist, dass man die Extremen von Arminianismus und Calvinismus meidet, sozusagen von keiner Seite vom Pferd fallen möchte.

Natürlich kaufe ich keinem so allzu schnell ab, dass er nun nach einer bereits oberflächlichen Betrachtung der Bibel bereits die Lösung auf Konflikte hat, die die Kirchengeschichte nun seit Jahrhunderten prägen. Dennoch haben mich Argumente dieser Art lange in Verlegenheit gebracht.

Kompatibilismus oder gründliche Exegese?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das aufgezeichnete Dilemma aufzulösen. Ich habe bereits skizziert, dass eine bloße Bestätigung der Kompatibilität nicht beweist, dass man ein gründlich fundiertes und ein biblisches Modell der Kompatibilität vertritt.

Insgesamt aber gibt es auch Momente, wo Fragen nach der Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und Freien Willen in den Hintergrund tretten müssen. Der biblische Text an sich, so wie er von uns gelesen wird, muss immer am Anfang allen Verständnisses stehen. Es kann kein Blanco-Check für allgemeine Antworten werden. Wenn ich frage: Wie ich gerettet werde und antworte: Es ist sowohl Gottes Gnade wie auch menschliche Verantwortung, gebe ich zwar eine pauschale Antwort, bemühe mich aber nicht um eine gründliche Darstellung, wie Bibel die Errettung darstellt, ob nun bereits als ewigen Ratschluss Gottes vor Grundlegung der Welt, ob in der durch Prophetie angekündigten und minituiös aussgeführten Heilsplan durch die Rettungstat Christi, ob durch die täglichen Wirkungen des Heiligen Geistes in meinem Herzen mich für Gott zu gewinnen – man könnte so viel darüber reden wie großartig Gottes Rettung des Sünders ist. Stattdessen sagt man: Gott hat so viel getan, nun liegt es an dir! Und keiner bemüht sich wesentlich darum, zu erklären, was mit „so viel getan“ gemeint ist.

Es wäre schade, wenn wir die Bibel gar nicht zu Wort kommen lassen, weil wir ihr von vornherein ein theologisches Modell überstülpen. Die Bibel sollte mein theologisches Modell formen und nicht umgekehrt.

Betroffen sind davon einzelne Bibelstellen, aber nicht nur: Natürlich kann ich erklären, dass mit „Ich habe Esau gehasst“ in Röm 9,13 nicht ein einzelner Mensch, sondern eine ganze Nation gemeint ist, wenn man die Parallelstelle aus Mal. 1.3-4 hinzuzieht. Aber man darf doch dabei nicht übersehen, dass Gott weiterhin seine besondere Beziehung zu seinem Volk wahrt, und aktiv sich dem ganzen Volk Edom in den Weg stellt, in einer Weise, wie er es bei seinem Volk nicht tut, man vergleiche nur Mal. 1,4: “Wenn Edom sagt: Wir sind zerschmettert, werden aber die Trümmerstätten wieder aufbauen, so spricht der HERR der Heerscharen: Sie werden bauen, ich aber werde niederreißen. ” (Maleachi 1,4).

Um ein Beispiel aus einem neutraleren Feld zu nehmen. Wir wissen, Jesus ist sowohl Mensch als auch Gott. Und diese Kompatiblität ist richtig und wahr. Dennoch wird es mir wenig nützen, darauf zu verweisen, dass Jesus ja Gott ist, wenn ich Texte wie Heb. 4,15 (“Denn wir haben nicht einen Hohen Priester, der nicht Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem in gleicher Weise wie wir versucht worden ist, doch ohne Sünde.” ) vor mir habe. Denn hier wird ein Bereich seiner menschlichen Natur abgesteckt. Seine göttliche Natur, die kann ja sowieso nicht versucht werden! (Jak. 1,13!). Doch als Mensch er wurde versucht und blieb immer ohne Sünde!

Nur weil wir die Kompatibilität vertreten, dürfen wir nicht unterschiedslos werden im Bezug auf die Verheißungen Gottes, so als wären Sie unterschiedslos und gleichermaßen für alle gültig. Oder wollen wir etwa sagen, dass Jer. 31,3 unterschieslos für Christen wie Nicht-Christen gültig ist: “Der HERR ist mir erschienen von ferne: Ich habe dich je und je geliebt; darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.” (Jeremia 31,3)

Mit der Zeit ist mir klar geworden, dass man im Kompatibilismus dann ein Argument gegen den Calvinismus sieht, wenn man mit dem Konzept des Bundes nicht vertraut ist. Man kann sehr unterschiedlich vom Evangelium reden, aber das Evangelium ist auch, dass Gott nun in eine vertraute Beziehung zu seinem Volk zieht. Gott hat eine exklusive, nahe, persönliche Beziehung zu seinem Volk. Sein Volk ist seine Braut, sein Kind, sein Haus, sein Weinstock. Es sind hier sehr viele unterschiedliche Bilder, die aber immer wieder in die gleiche Kerbe schlagen: eine exklusive Bundesbeziehung. Und über diesem Bund einen oberflächlichen Kompatiblismus zu überstülpen ist nahezu unmöglich – Lasst es uns versuchen: Gott schließt einen Bund mit dir und nun schließt du einen Bund mit Gott? So als wären Schöpfer und Geschöpf auf einer Ebene. Als wäre der Bundesschluss nicht eine souveräne Entscheidung zu unseren Gunsten – lange, als wir noch Feinde waren. Um mit Paulus zu sprechen: “Denn wenn wir, als wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, so werden wir viel mehr, da wir versöhnt sind, durch sein Leben gerettet werden.” (Römer 5,10).

Ich muss gestehen, dass es mir selbst ein bisschen schwer fällt, diese Gedanken in der Kürze eines Artikels zusammenzufassen. Ich möchte vor allem den Aspekt zur Sprache bringen, dass wir ein unvollständiges Bild vom Zusammenwirken von Verantwortung und Gnade in unserem Heil sehen werden, wenn wir nicht eine gründliche Betrachtung von Gottes Bundesbeziehung zu seinem Volk durchführen. Aus diesem Grunde bemühte ich mich um eine Übersetzung eines Essays zu diesem Thema von J.I. Packer (mehr dazu hier). Ich hoffe insgesamt einen jeden Leser ermutigt zu haben, mehr und ausführlicher und geduldiger in Gottes Wort zu blicken.

Reformatorische Darstellungen des Kompatibilismus

Da das hier immer noch ein Literatur-Blog ist, möchte ich auf einige ausführliche calvinistische Schilderungen des Kompatibilismus näher eingehen.

C.H. Spurgeon: „Verteidigung des Calvinismus“

Das Kapitel 12 aus Spurgeons Autobiographie „Alles zur Ehre Gottes“ ist sicher ein Klassiker, und wird gelegentlich als Einzelschrift aufgelegt. Hier schreibt Spurgeon:

„Das System der Wahrheit, das in der Heiligen Schrift offenbart ist, ist nicht eine gerade Linie; es sind zwei. Und niemand wird jemals eine richtige Sicht des Evangeliums erhalten, bevor ernicht gelernt hat, beide Linien zugleich zu sehen. Zum Beispiel leseich in einem Buch der Bibel: »Und der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; wer will, nehme das Wasser des Lebens umsonst.« Und doch lerne ich an einer anderen Stelle desselben inspirierten Wortes Gottes, dass es nicht »an dem Wollenden noch an dem Laufenden« liegt, »sondern an dem begnadigenden Gott«. An der einen Stelle sehe ich, wie Gott in seiner Vorsehung über allem steht, und doch sehe ich auch – und ich kann nicht daran vorbei –, dass der Mensch handelt, wie er will, und dass Gott sein Handeln in einem großen Maße ihm selbst und seinem eigenen freien Willen überlassen hat. Wenn ich nun auf der einen Seite behaupten würde, dass der Mensch so frei ist in seinem Handeln, dass es keine Kontrolle Gottes über sein Tun gäbe, dann wäre ich sehr gefährlich nahe anden Atheismus herangekommen. Wenn ich auf der anderen Seite erklären würde, dass Gott alle Dinge so sehr überwacht, dass der Mensch nicht frei genug ist, um selbst verantwortlich zu sein, dann wäre ich sofort beim Antinomismus oder Fatalismus. Dass Gott vorherbestimmt und dass der Mensch doch selbst verantwortlich ist, sind zwei Tatsachen, die nur wenige klar sehen. Man hält sie für unvereinbar miteinander und für Widersprüche, aber sie sindes nicht. Der Fehler liegt in unserem schwachen Beurteilungsvermögen. Zwei Wahrheiten können sich nicht gegenseitig ausschließen. Wenn ich also an einer Stelle der Bibel finde, dass alles von oben her bestimmt ist, dann ist das wahr. Wenn ich dann aneiner anderen Stelle finde, dass der Mensch für alle seine Taten verantwortlich ist, dann ist auch das wahr. Es ist einzig und allein meine Dummheit, die mich dazu bringt zu denken, diese beidenWahrheiten könnten sich jemals widersprechen. Ich glaube nicht, dass sie je auf irgendeinem irdischen Amboss zu einer einzigen Wahrheit zusammengeschmiedet werden können, aber sie werden sicher in der Ewigkeit eins sein. Sie sind zwei Linien, die so parallel sind, dass der menschliche Verstand ihnen so weit, wie es geht, folgen kann, ohne zu sehen, dass sie sich jemals treffen. Aber sie treffen sich und werden eins, irgendwo in der Ewigkeit, nahe bei demThron Gottes, wo alle Wahrheit entspring“ (C.H. Spurgeon, Alles zur Ehre Gottes, S. 141f)

Gerade dieses gleichzeitige Sehen von Vorherbestimmung und Verantwortung ist es, was Calvin für Spurgeon zu einem guten Ausleger macht. Über ihn schreibt Spurgeon – eine Auszeichnung, die sich wohl jeder Schriftausleger wünschen würde:

In seinen Auslegungen ist er nicht immer das, was die heutigen Menschen „calvinistisch“ nennen würden; das heißt: Wo die Schrift die Lehre von Vorherbestimmung und Gnade bezeugt, weicht er in keiner Weise zurück. Da jedoch manche Schriftstellen den Eindruck menschlicher freien Handlung und Verantwortung tragen, scheut er sich nicht, auch deren Sinn mit voller Fairness und Redlichkeit auszulegen. Er war kein Beschneider und Zurechtstutzen von Bibelstellen. Er gab deren Bedeutung so wieder, wie er sie verstand. (Eigene Übersetzung aus commenting and commentaries)

Natürlich können wir nicht ohne Augustinus bleiben. Thomas Schirrmacher zitiert ihn in einem seiner eigenen Artikel die Kompatiblität von Vorherbestimmung und Verantwortung, die selbst bereits lesenswert sind, wie z.B. hier:

Wer da behauptet, die Gnade hebe den freien Willen auf, begreift nicht, dass er den Wil­len nicht festigt, sondern haltlos treiben läßt.“

Augustinus war bemüht, gerade den Willen der Menschen vor Gott zu betrachten. Eine sehr ausführliche Besprechung mit vielen Zitaten aus „das Geschenk des Ausharrens“ findet sich hier auf dem Blog, und wird hier nicht erneut wiederholt.

Erneut wiederholen möchte ich aber, wie Wilhelm Busch in „Jesus predigen – nicht irgendwas“ den Kompatibilismus zur Sprache bringt:

„Da sagt Gottes Wort in Jesaja 45,22: „Wendet euch zu mir aller Welt Enden, so werdet ihr errettet.“ Wer nun etwa über solch einen Text predigt, der soll dieses Wort Gottes so stehen lassen. Er soll rufen und reden, als sei die Bekehrung ganz und gar in die Entscheidung des Hörers gelegt. Gewiss, in Jeremia 31,18 lesen wir: „Bekehre du mich, so werde ich bekehrt.“ Und wir alle kennen Luthers Erklärung des 4. Artikels: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu Ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist…“ – Es wäre aber nun völlig verfehlt, diese biblische Wahrheit hier auszusprechen in einer Predigt über Jesaja 45,22. In diesem Wort haben wir einen klaren Ruf Gottes an die Gewissen vor uns, der in dieser Eindeutigkeit stehen bleiben muss. Die andere Wahrheit muss in ihrer ganzen Einseitigkeit stehen bleiben muss. Die andere Wahrheit muss in ihrer ganzen Einseitigkeit verkündigt werden bei einer Bibelstunde über Jeremia 31,18.

Kurz, wir dürfen die anschauliche Einseitigkeit eines Bibelwortes nicht durch lehrhafte Anbauten und Überbrückungen um seine Wirkung bringen. Sonst verschießen wir Pfeile, bei denen die Spitzen abgebrochen sind.

Ich bin überzeugt, dass unser – oft gut gemeintes – lehrhaftes Bemühen manchen Bibeltext um seine Anschaulichkeit bringt.“

Zu guter Letzt möchte ich Anthony Hoekema zitieren, der im Nachdenken darüber, ob der Mensch nun Person oder Geschöpf ist, diese Zeilen niederschrieb (das ausführliche Zitat ist aus Anthony A. Hoekema, Created in God’s Image (Grand Rapids, MI; Cambridge, U.K.: William B. Eerdmans Publishing Company, 1994), 5–6.):

Die Schrift macht sehr deutlich, dass alle geschaffenen Dinge und alle geschaffenen Wesen völlig von Gott abhängig sind. „Du [Gott] hast den Himmel gemacht, den Himmel der Himmel samt ihrem ganzen Heer, die Erde und alles, was auf ihr ist, die Meere und alles, was in ihnen ist; und du erhältst sie alle“ (Neh 9,6, RSV). Dass Gott alle seine Geschöpfe erhält, auch die Menschen, bedeutet, dass sie für ihr weiteres Dasein von ihm abhängig sind. In seiner Rede an die Athener bestätigt Paulus, dass Gott „allen das Leben und den Odem und alles gibt“ und dass „in ihm leben, weben und sind wir“ (Apg 17,25.28). Paulus sagt damit: Unseren Atem selbst verdanken wir Gott; wir existieren nur in ihm; in jeder Bewegung, die wir machen, sind wir von ihm abhängig. Wir können keinen Finger rühren außerhalb des Willens Gottes.

Der Mensch ist jedoch nicht nur ein Geschöpf, sondern auch eine Person. Person zu sein bedeutet, eine gewisse Eigenständigkeit zu besitzen – nicht absolute, sondern relative. Person zu sein heißt, Entscheidungen treffen zu können, sich Ziele zu setzen und sich auf diese Ziele zuzubewegen. Es bedeutet, Freiheit zu besitzen – zumindest in dem Sinn, dass man eigene Entscheidungen treffen kann. Der Mensch ist kein Roboter, dessen Weg völlig von äußeren Kräften bestimmt ist; er besitzt die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstlenkung. Person zu sein heißt – um den bildhaften Ausdruck Leonard Verduins zu gebrauchen – ein „Geschöpf der Wahl“ zu sein.

Zusammenfassend ist der Mensch sowohl Geschöpf als auch Person; er oder sie ist eine geschaffene Person. Dies ist nun das zentrale Geheimnis des Menschen: Wie kann der Mensch zugleich Geschöpf und Person sein? Geschöpf zu sein bedeutet, wie wir gesehen haben, absolute Abhängigkeit von Gott; Person zu sein bedeutet relative Selbstständigkeit. Geschöpf zu sein bedeutet, dass ich keinen Finger rühren oder ein Wort sprechen kann außerhalb Gottes; Person zu sein bedeutet, dass, wenn meine Finger bewegt werden, ich sie bewege, und dass, wenn Worte durch meine Lippen ausgesprochen werden, ich sie ausspreche. Geschöpf zu sein bedeutet, dass Gott der Töpfer ist und wir der Ton (Röm 9,21); Person zu sein bedeutet, dass wir es sind, die durch unsere eigenen Entscheidungen unser Leben gestalten (Gal 6,7–8).

Ich habe dies das zentrale Geheimnis des Menschen genannt, weil es uns zutiefst geheimnisvoll erscheint, dass der Mensch zugleich Geschöpf und Person sein kann. Abhängigkeit und Freiheit scheinen uns unvereinbare Begriffe zu sein. Wir gestehen zu, dass ein Kind im Säuglingsalter völlig von seinen Eltern abhängig ist; aber wir stellen fest, dass dieses Kind, je mehr es in Richtung größerer Freiheit und Reife wächst, desto weniger von seinen Eltern abhängig wird. Das können wir verstehen. Aber wie sollen wir uns eine Beziehung vorstellen, in der völlige Abhängigkeit von Gott und persönliche Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, weiterhin Hand in Hand gehen?

Auch wenn wir rational nicht begreifen können, wie es möglich ist, dass der Mensch zugleich Geschöpf und Person ist, ist doch klar, dass wir genau das denken müssen. Die Leugnung einer der beiden Seiten dieses Paradoxons wird dem biblischen Bild nicht gerecht. Die Bibel lehrt sowohl das Geschöpfsein des Menschen als auch seine Personalität. Manchmal spricht sie den Menschen als Geschöpf an, zum Beispiel, wenn sie von Gott als dem Töpfer und vom Menschen als dem Ton redet (Röm 9,21). Häufiger jedoch spricht sie ihn als Person an: „Wählt euch heute, wem ihr dienen wollt“ (Jos 24,15); „So bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2 Kor 5,20).

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