Alle Artikel von “Sergej Pauli

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Gibt es das Ganze ohne seine Teile?

Gelegentlich erreicht das, was gut gemeint ist, den gegenteiligen Effekt. Der Aufruf „den roten Faden“ der ganzen biblischen Erzählung zu erkennen ist häufig, und kommt z.B. bei Kinderbibeln vor. Als Beispiel wählen wir „Die größte Geschichte“ von DeYoung, über die Randy Alcorn schreibt: „»Viele Kinderbibeln bieten Perlen ohne eine Schnur an. Dieses Buch fädelt die Perlen auf eine Schnur – und zwar die richtige“. Der Gedanke ist wie gesagt zunächst zu begrüßen: Man kann die Lebensläufe von Abraham, Isaak, Joseph und Mose kennen, ohne die Botschaft des Evangeliums in all diesen Geschichten zu hören oder wahrzunehmen.

Und doch scheint es mir, dass der Ansatz, nun „die eigentliche Geschichte“ zu erzählen, nicht dazu führen wird, dass die Kenntnis der Bibel (und ihrer Kernbotschaft!) in unserem Umfeld zunehmen wird. Mir ist das beim Hören einer Folge von „Help Me Teach the bible“ klar geworden, als N. Guthrie den Theologen Graeme Goldsworthy interviewt hat. Dieser ist bekannt für sein Bemühen, einige Werke über Biblische Theologie veröffentlicht zu haben. Relativ zu Beginn des Interviews sprechen Goldsworthy und Guthrie ungewöhnlich kritisch darüber, wie „schlecht ausgebildetes“ Personal in der Sonntagsschule dazu geführt hat, dass zwar jeder die vielen biblischen Geschichten kannte, niemand aber auf den Roten Faden in diesen Geschichten hinwies, auf den „bibles basic plot“.

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Was für eine Demokratie ist das?

Dieses Jahr empfinde ich die Aufrufe „das Richtige zu wählen“ als besonders zahlreich. Die Buchhandlung-Kette und die Unfallversicherung rufen dich auf, etwas Vielfältiges zu wählen, das Unternehmen etwas Bewährtes und manch ein Konservativer die Alternative. Geh wählen, ist der Tenor, aber wähle doch das Richtige! Insbesondere die Huldigung der Intellektuellen Elite des Landes vor den Grünen ist dabei, ehrlich gesagt, sowohl besonders aufdringlich, wie verwirrend.

Dieser soziale Druck das Kreuzchen „an die richtige Stelle zu setzen“ rief in mir die Erinnerung an ein Werk wach, dass ich bereits vor einiger Zeit gelesen habe.

Es handelt sich um „Persisches Feuer“, eines der Früheren Werke des Historikers und Autoren Tom Holland, der vor einiger Zeit zum Christentum konvertierte. Wie der Titel erahnen lässt, handelt das Buch vom Persischen Reich. Ich habe zu diesem Buch gegriffen, weil ich mir hilfreiche Hintergrundinformationen zur Umwelt des Alten Testaments versprach, die sich im Buch aber nur spärlich finden. Ein Grund mögen hier auch auf die wenigen (zuverlässigen) Quellen sein, auf die Holland zurückgreifen kann. Insgesamt zeichnet das Buch die Zeit des persischen Reiches von Kyros bis Xerxes auf, doch in diesem Artikel wollte ich auf das Kapitel 4, dass den knappen Titel „Athen“ trägt aufmerksam machen.

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Martin Luther King – Vorkämpfer für Frieden und Menschenwürde

Mit zwei Freunden versuchen wir gelegentlich historische Texte zu lesen und haben uns den Brief von Martin Luther King aus dem Gefängnis in Birmingham vorgenommen. Dafür das King den Brief auf Zeitungsresten und Papierfetzen mitten aus seiner unwürdigen Zelle geschrieben hat, entstand ein wirklich mächtiges und hilfreiches Dokument. Auf der Suche nach einer deutschen Übersetzung dieses Briefes bin ich auf ein Band aus der Reihe „Zeugen des gegenwärtigen Gottes“ gestoßen (Und dabei entdeckt, das Sermon-Online eine ganze Menge Bände dieser super Reihe zum Download anbietet)

Die Beschäftigung mit dem Gewaltlosen Widerstand, den Martin Luther King mit den Gemeinden der Schwarzen praktiziert hat, ist eine Ermutigung in vielerlei Hinsicht. Da kommt ein junger Pfarrer von dem Theologiestudium und ist gewappnet das Gelernte, mit dem er sich intensiv auseinandergesetzt hat, ziemlich schnell in die Praxis umzusetzen. 1955 weigert sich die farbige Näherin Rosa Parks beim Busfahren sich weiterhin der Rassentrennung (Segregation) zu fügen und hinten Platz zu nehmen. Nun folgt ein ganzes Jahr harter Kampf gegen die Segregation, der vor allem von den Kirchen getragen wird. Die Schwarzen währenddessen nutzen keine Omnibusfahrten mehr und unterstützen sich entweder gegenseitig mit Fahrdiensten oder gehen zu Fuß. Nun versucht die Stadt alles mögliche, um die Menschen zum Busfahren zu bewegen, oder wohl eher zu zwingen. Privater Fahrten werden als Steuerhinterziehung gebrandmarkt, Fahrende werden für „Geschwindigkeitsüberschreitung“ verhaftet. Dabei stehen gerade die Pastoren gewaltig unter Druck, und in Kings Haus wird regelmäßig eine Bombe (!) platziert. Als man die Verursacher der Terroranschläge fängt, werden sie von den Geschworenen freigesprochen!

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Der Optimismus der Kirchenväter könnte ansteckend werden…

Wenn man erst einmal herausgefunden hat, welche der vielen Kirchenväter erbaulich – und vielleicht nicht nur das, sondern auch verständlich und aktuell zu lesen sind, wird man sicher irgendwann auch bei der Kirchengeschichte von Eusebius von Cäsarea landen (Historia Ecclesiastica). Kaum habe ich dieses umfangreiche Werk angefangen zu lesen, ergab ich mich den Selbstvorwürfen, warum ich das so spät getan habe. (Das Werk gibt es kostenfrei bei der BKV).

Die Kirchengeschichte überrascht den Leser gleich zu Begin: Womit fängt die Kirche an? Mit Christus. Und somit fängt das Buch auch mit der Beleuchtung Christi an, seiner Gottheit, seiner Menschwerdung, seiner Ankündigung als Messias im Alten Testament (und Eusebius zitiert entsprechend meist gründlich aber immer sehr ausführlich aus der Schrift) und landet so bei dem spannenden Thema, warum sich Christus so spät in der Menschheitsgeschichte offenbart hat.

Gerade hier überrascht Eusebius uns mit einer positiven Haltung – ja die ist so positiv optimistisch, dass sich sogar die Herausgeber der von der BKV zur Verfügung gestellten Version zu einer korrigierenden Anmerkung hinreißen lassen, dass nämlich Eusebius die Folgen des Gesetzes Mose falsch deute: „Nach Eusebius und vielen christlichen Lehrern bewirkte das mosaische Gesetz sittliche Besserung. Anders und tiefer urteilte der hl. Paulus im Römer- und Galaterbriefe. Nach ihm fiel das jüdische Volk durch das Gesetz des Moses erst recht in Sündenelend, so daß es keinen Grund hatte, sich gegenüber den sittlich verkommenen Heiden mit dem Gesetze zu brüsten.“ (S. 6) – Eine derart protestantisch klingende Anmerkung katholischer Herausgeber überrascht in der Tat!

Aber was war es, dass die Herausgeber so aufgewühlt hat? Blicken wir näher auf Eusebius‘ Aussage, müssen wir feststellen, dass man diese Anmerkung nur treffen konnte, wenn man Eusebius missversteht. Ich muss ihn direkt sprechen lassen und zitiere deswegen ausführlich (mit Sternchen ist dabei die Stelle gekennzeichnet, an der die Herausgeber ihren Kommentar einfügen).

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Predigten von George Whitefield

Whitefield wird durchaus neu entdeckt in letzter Zeit. So ging es mir vor einiger Zeit, als ich auf seine Predigt „Christus: Stütze der Versuchten“ stieß. Whitefield klingt meist viel moderner als man denkt, vielleicht weil das altertümliche Englisch dem Deutschen ein wenig ähnlicher war, als das heutige – worauf ich hinaus will ist, dass Whitefield sich in der Übersetzung häufig sehr angenehm und gut verständliich ließt und sein wirklich tiefes Bibelwissen und seine hervorragenden theologischen Kenntnisse sehr volksnah und einfach übermitteln konnte. Auf diesem Gebiet übersteigt er wahrscheinlich selbst Spurgeon. Seine Predigten sind voller Evangelium und er ist ein sehr solider Lehrer der Schrift. Bisher findet man nicht allzu viel von Whitefield auf Deutsch, vor einiger Zeit erschien eine weitere Predigt als kleines Büchlein: „Christus, die Weisheit, Gerechtigkeit Heiligung und Erlösung der Gläubigen“.

Nun konnte ich eine wachsende Sammlung von Whitefields Predigten im Deutschen ausmachen. Tanja Hardt, die Betreiberin von www.whitefield-predigten.de schreibt: „Die Predigten von George Whitefield haben mich tief berührt, ich fand aber kaum deutsche Übersetzungen.Also habe ich beschlossen, sie einfach selbst ins Deutsche zu übersetzen und mit dieser Webseite zur Verfügung zu stellen.“

Aktuell enthält die Seite von Fr. Hardt etwa 50 Predigten, die man sämtlich auch als pdf-Dokument geladen werden können. Gerade die gründliche Ausarbeitung der verwendeten Bibeltexte macht die Übersetzungen auch für die Verwendung als Andachten wertvoll.

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Ein für jede Predigt gefährlicher Bibelvers

Eine beliebte Prediger-Phrase haben wir hier im Blog schon einmal betrachtet. Eine andere Phrase, lose anspielend auf 2. Tim 4,3 bzw. auch 1. Tim 4,1; Jes. 30,10 Jer. 5,30-31 ist der Bezug auf Zuhörer, die nur das hören wollen nach „denen ihnen die Ohren jucken“ (das nun wirklich in 2. Timotheus 4,3 nachzulesen, aber „nur in der Luther“)

Womöglich bin ich auch nur etwas „überprogrammiert“ auf diese Phrase, die meine frühere Kinderstundenleiterin sehr gerne genutzt hat. Keine Ermahnung die nicht damit eingeleitet wurde! Aber mir scheint, dass man sie schon recht häufig auch an vielen anderen Stellen hört.

Der Prediger nutzt diese Phrase gerne: In vielen Kirchen da versammeln sich die Leute, um zu hören, was sie hören wollen, aber bei uns hört man noch den „ganzen Ratschluss Gottes“

Und noch interessanter, auch die Zuhörer selbst nutzen die Phrase gerne: Diese und Jene Kirche verließ man, da man dort nur das predigte, „wonach die Ohren gejuckt haben“. Und an der Stellen wird der Vers wirklich gefährlich, den diese These klingt ja zumindest ein bisschen paradox: Wir wollten a) nicht hören, jetzt hören wir b). a) war uns UNANGENEHM, da es unseren Ohren GENEHM war – Nun sind wir BEREIT das ANGENEHME b) zu hören, was UNANGENEHM im vergleich zu a) ist. – Bitte was?

Ich bin schon der Meinung, dass es möglich ist, gerade mit der Absucht nur das zu hören „was meine Ohren hören wollen“ und gleichzeitig völlig davon überzeugt zu sein, dass man frei jeder Gefahr sei, vor die uns 2. Tim 4,3 warnt. Nun mal den ganzen Vers (nur in der Luther): “Denn es wird eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen werden; sondern nach ihrem eigenen Begehren werden sie sich selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen die Ohren jucken,” (2. Timotheus 4,3). Manche mögen einfach harte ermahnende Predigten – sie sollen ruhig dem nächsten in der wilden Freikirche ins Gewissen reden! So angenehm zu sehen, dass man so viel besser ist, als die meisten „Christen“ (man möchte ja nicht urteilen, aber so richtig als Brüder kann man sie auch nicht annehmen) um einen herum. Diese Art von Geisteseinstellung kann sich einschleichen, während man sich mit 2. Tim 4,3 und ähnlichen Versen seiner eigenen Demut versichert.

Doch nicht nur der Zuhörer verfällt diesem Wechseltausch. Auch der (häufig) sehr beißende, abgrenzende Prediger, begrüßt 2. Tim 4,3 mit Kusshand. Nun kann er problematische, radikale, und alle sonstigen Thesen immer damit verteidigen, dass er ja, die „heilsamen schwer zu ertragende Lehre“ verkündigt. Tatsächlich denke ich da durchaus an ein konkretes Beispiel, weiß aber das einige der Blogleser mit diesem radikalen Anti-Korona-Die-Endzeit-ist-nah Prediger sympathisieren. Es ist ja so einfach geworden, jede Kritik an der Predigt mit „der Nichtertragung der heilsamen“ Lehre niederschmettern zu können.

Übrigens glaube ich sehr wohl an die Wichtigkeit von 2. Tim 4.3, gerade wie der Vers auch sagt für unsere Zeit. Dennoch glaube ich, dass wir gerade auf das hereinfallen, vor was uns Paulus warnt, wenn wir unsere Seelen für irgendwelche gehörten oder gepredigten Phrasen streicheln. Wenn wir anfangen mit diesem Vers nicht uns, sondern die Nächsten zu prüfen. Wenn wir Unsere Ohren zum Massstab für andere Ohren erklären, so als wäre „unser eigenes Begehren“ der Maßstab für Gottes Wort!!! Wenn wir Texte wie 2. Tim. 4.3 als Rechtfertigung für Selbstgefälligkeit (ob nun als Hörer oder Verkündiger) nutzen, statt als das was es ist, eine Ermahnung zur Wachsamkeit für jedermann!

Übrigens glaube ich, dass es ein wichtiges Maß gibt, woran man das „Ohren-Jucken“ als Prediger einschränken und lokalisieren kann: Man betrachte seine Textwahl: Gibt es beliebte Themen, bevorzugte Texte und Texte die ignoriert werden? Ich glaube jeder Prediger wird dann feststellen, dass es doch nicht immer so ist, wie man häufig meint, dass man einzig aufgrund der Führung des Geistes gepredigt hat. Diesen „Ohren-Wähl“-Faktor gilt es möglichst gering zu halten.

Ähnlich geht es dem Zuhörer. Lehne ich eine gehörte Predigt nur, wegen der falschen Person, der mittelmäßigen Exegese oder der ungeeigneten Beispiel wegen ab?

Wann habt ihr euch dabei erwischt, dass ihr gerade das hören wolltet, wonach eure „Ohren gejuckt“ haben? Ich wünsche uns allen, dass dieser „gefährliche“ Vers gefährlich für unser Eigendünkel wird.

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Kurze Texte über historische Persönlichkeiten…

… diesen ungewöhnlichen Titel trägt eine Biographie-Sammlung von Stefan Zweig. Zweig ist ein bekannter Biograph, zu seinen Werken zählen „Sternstunden der Menschheit“, „Baumeister der Welt“ und umfangreiche Biographien über Freud, Marie Antoinette, Maria Stuart, Magellan… Zweig ist immer ein spannender Erzähler, man hat das Gefühl, man ist ihm ganz nah, ich wähle das Bild des Lagerfeuers, so dass man beinahe mitreden kann, während Zweig berichtet. Ich empfehle für den Einstiegs Zweigs Erzählung „Die unsichtbare Sammlung“, oder man schafft sich gleich die Stefan Zweig Box an. Dies ist eine Lesung ausgewählter Texte von Stefan Zweig – erschien im Argon Verlag zum 125. Geburtstag des Autors.

An die größeren und umfangreichen biographischen Werke Zweigs habe ich mich bisher nicht getraut – ich empfinde Biographien zwar einerseits als besonders fruchtbares Lesevergnügen, aber gleichzeitig auch als ein besonders herausforderndes. Entsprechend bot sich die sowohl bei Amazon, wie auch bei Projekt Gutenberg kostenfrei verfügbare Sammlung an Biographien, oder zumindest Texten mit großem biographischem Bezug, an, die unter dem markanten Titel „Kurze Texte über historische Persönlichkeiten“ veröffentlicht werden.

Die Auswahl der Texte ist bunt gemischt und bespricht das Leben der mittelalterlichen Vatermörderin Beatrice Cenci, deren Leben durch Dichtung zur Legende verkam, ähnlich wie den tragischen Tod eines französischen Teenagers (Philippe Daudet) im Jahre 1923.

Beeindruckt hat mich die „Erinnerung an Theodor Herzl“. – Ein Text der auch heute noch große Bedeutung hat und persönliche Eindrücke von Herzl schildert – Überhaupt sind es die persönlichen Erinnerungen, die sich am interessantesten in dieser Auswahl lesen. Dazu gehört im weiteren Verlauf des Buches ein Treffen mit Albert Schweitzer, eine Grabesrede über Sigmund Freud, die Begegnungen mit dem französischen Pazifisten und Sozialisten Jean Jaures und die Schilderung eines ungewöhnlichen Kommilitonen Otto Weininger. All diese Leute kannte Zweig genauso persönlich wie Walther Rathenau, der Grundlage des wohl eindrucksvollsten Textes der Sammlung ist und den Teil bildet, der am ehesten einer (Kurz-)Biographie entspricht. Doch zurück zur Erinnerung an Herzl: Herzl war es, der Zweigs erstes Werk herausgab und Zweig blieb so immer ein wohlwollender Beobachter Herzls und des Zionismus (zu welchem er ansonsten keinen Zugang findet), schildert aber wie viel Benachteiligung und Kummer Herzl für seine Ideen des Zionismus in Kauf nehmen musste. Mit Zweigs Worten: „Diese Erinnerungen, ich weiß es wohl, scheinen von einem anderen Theodor Herzl zu erzählen als dem, den die Gegenwart kennt. Sie sprechen zunächst von einem einst berühmten und heute vollkommen vergessenen Schriftsteller, dessen Bildnis die ins Überzeitliche wachsende Gestalt des Zionisten Herzl vollkommen verschattet hat.“ (Verfasst 1937!) Sich zum jüdischen Volk zu bekennen, verschloss Herzl alle Türen und isolierte ihn in der Welt der europäischen Intellektuellen. Gleichzeitig blieb Herzl für das orthodoxe Judentum selten orthodox oder passend genug. Zweig schreibt über das Erbe von Herzl:

„Die Krankheit, die damals ihn zu beugen begann, hatte ihn plötzlich gefällt, und nur zum Friedhof mehr konnte ich ihn begleiten. Vor genau fünfundzwanzig Jahren. Ein sonderbarer Tag war es, ein Tag im Juli, unvergeßlich jedem, der ihn miterlebte. Denn plötzlich kamen auf allen Bahnhöfen der Stadt, mit jedem Zug bei Tag und Nacht aus allen Reichen und Ländern Menschen gefahren, westliche, östliche, russische, türkische Juden, aus allen Provinzen und kleinen Städten stürmten sie plötzlich herbei, den Schreck der Nachricht noch im Gesicht; niemals spürte man deutlicher, was früher das Gestreite und Gerede unsichtbar gemacht, daß hier einer großen Bewegung der Führer gefallen war. Es war ein endloser Zug. Mit einmal merkte Wien, daß hier nicht nur ein Feuilletonist gestorben war, ein Schriftsteller oder mittlerer Dichter, sondern einer jener Gestalter von Ideen, wie sie in einem Land, in einem Volk nur in ungeheuren Intervallen sich sieghaft erheben. Am Friedhof entstand ein Tumult, zu viele strömten plötzlich zu seinem Sarge, weinend, heulend, schreiend in einer wild explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein Wüten fast; alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vordem und nachher bei einem Begräbnis gesehen: und an diesem ungeheuren, aus der Tiefe eines ganzen Millionenvolkes stoßhaft aufstürmenden Schmerz konnte ich zum erstenmal ermessen, wieviel Leidenschaft und Hoffnung dieser einzelne und einsame Mensch durch die Gewalt eines einzigen Gedankens in die Welt getragen.“

Zweig ist stets bemüht das Gute, Kräftige, Nützliche, Vorbildliche in den Personen zu schildern, seine Rede über Freud wirft ein ganz anderes Licht auf diesen Vater der Psychoanalyse, den Zweig für die Entdeckung der Seele nicht hochgenug preisen kann. Aus materialistischer Sicht betrachtet ist es sicher ein großer Gewinn, wenn man die Seele, den inneren Menschen neu erkennt! Leider blieb hier der noch wichtigere Schritt, den Erhalter der Seele zu erkennen, aus. Manchmal sind die Farben der Schilderungen sicherlich etwas überzeichnet und triumphalistisch (Zweig würde wohl sagen „idealistisch“). Am selbstkritischsten ließt sich Zweig in der Schilderung des Studenten Otto Weininger, – die Schilderung trägt den Untertitel „Vorbeigehen an einem unauffälligen Menschen“. Dieses immer vorangetriebene hohe Ideal dürfte es sein, an dem Zweig letzendlich selber zerbrach, als er in den Unruhen des zweiten Weltkriegs seine Welt brennen sah und als Flüchtling gleich auf seiner ersten Station Selbstmord beging.

Der Text über Walther Rathenau ist ein würdiger Abschluss für dieses Werk. Rathenaus Begabungen waren mir bis dahin nicht bekannt. ein jüdischer Deutscher, wohlhabender Industriellensohn, Chemiker, Halter mehrerer Patente, Dichter, Poet, weitreichender Autor, Fähig flüssig in Englisch, Italienisch und Französich zu kommunizieren, und heute vor allem als tragischer Reichsaußenminister bekannt. – Zweig trifft ihn mehrmals persönlich und ist tief beeindruckt: „Nichts hat mich mehr an ihm erstaunt als die geniale Organisation seines äußeren Lebens, während solcher Vielfalt der Interessen, dieses Freisein und Zeit-haben für Alles und Jedes bei unerhörtester Tätigkeit. Es war mein stärkster Eindruck, als ich ihn zum erstenmal sah, mein stärkster, als ich ihn das letztemal sah. Das erstemal – vor mehr als fünfzehn Jahren –, als ich nach längerer brieflicher Bekanntschaft ihn in Berlin anrief, sagte er mir am Telefon, er reise am nächsten Morgen für drei Monate nach Südafrika. Ich wollte natürlich sofort auf den doch gänzlich gelegentlichen Besuch verzichten, aber er hatte inzwischen schon zu Ende kalkuliert, die Stunden gezählt und bat mich, um 1/4 12 Uhr nachts zu ihm kommen, wir könnten dort zwei Stunden angenehm verplaudern. Und wir sprachen zwei und drei Stunden: nichts deutete auf irgendeine Spannung, auf eine Unruhe knapp vor einer Dreimonatsreise in einen andern Erdteil an. Sein Tag war eingeteilt, dem Schlaf sowie dem Gespräch ein gewisses Maß zugewiesen, das er voll erfüllte mit seiner leidenschaftlichen und unendlich anregenden Rede. Und so war es immer: man mochte kommen, wann man wollte, dieser tätigste Mensch hatte für den gelegentlichsten Menschen Zeit bei Tag und bei Nacht, es gab für ihn kein unerfülltes Versprechen, keine unerledigten Briefe, keinen vergessenen Anlaß im Tumult seiner Tätigkeit, und mit genau derselben bewundernden Stärke wie das erstemal habe ich dieses Genie seiner Lebensorganisation bei der letzten Begegnung gespürt“. Die Schilderung Rathenaus ist ein hilfreiches Korrektiv für die heutige Ignoranz gegenüber der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Um bei Rathenau zu bleiben- prophetisch korrekt deutet Zweig den Märtyrertods Rathenaus (Der Text erschien 1922!):

„Die dummen Jungen, die mit ihrer eingepeitschten Hinterhaltsheldentat dem deutschen Geiste zu dienen meinten, waren unbewußt im Einklang mit dem tiefsten Sinn seines Schicksals, denn nur durch das Hingeopfertsein ward das Opfer sichtbar, das Walther Rathenau auf sich genommen hatte. Aber vielleicht ist die Nation mehr um diesen Tod zu bedauern als er selbst. Welthistorische Gestalten soll man nicht sentimentalisch sehen und nicht ihnen langgemächliches Leben und umhüteten Bettod wünschen wie braven bürgerlichen Familienvätern: ihr wahres Schicksal ist nicht das persönliche, sondern das historische, das zeitlos bildsame, und das liegt in wenigen großen Augenblicken beschlossen. Das Höchste, das solchen Naturen verstattet ist, bleibt immer im Sinne Schopenhauers ein heroischer Lebenslauf. Rathenau hat diese letzte, diese höchste Lebensform eben durch seinen Tod erreicht: eine Stunde Weltwirken nur war ihm gegeben, die hat er groß genützt, und ein Beispiel steht nun dauernd an der Stelle, wo flüchtig, allzuflüchtig seine irdische Gestalt gestanden“

Das Buch ist ein großer Gewinn für jeden, der Zweig at his best in Kombination mit interessanten Biographien lesen möchte. – Zu weiteren biographischen Texten von Zweig werde ich unbedingt greifen!

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Lesen gegen den Trend: Ein Ziel für das Jahr 2025

Für V.H.

Lieber V., deine regelmäßigen Nachrichten über deine Lektüre waren in den letzten Wochen eine große Ermutigung für mich. Die Wahl meiner Lektüre fällt sicher anders aus, als deine, aber ich möchte dich unbgedingt ermutigen, weiterhin gegen den Strom zu schwimmen.

Lesen ist so out wie nie – eine verwandte Seele sagt mir immer, wenn ich ein Buch erwerbe, dass es die reinste Geldverschwendung wäre, man könne doch alles auch im Internet nachlesen. Lesen ist in etwa genauso out, wie das Bloggen. Für was einen Artikel lesen, wenn man sich durch Insta-Reels klicken kann?

Ich bin sowohl zu anachronistisch, wie auch zu sturr, um einfach jedem Trend zu folgen, und beklage jeden (christlichen) Blogger, der das Bloggen für Insta (oder sonst was) -Flimmerbildchen eingetauscht hat. Keine Option für mich. Und es scheint auch keine Option für meine beiden Mitautoren Alex R. und Eduard K.

Sehr beklagenswert ist auch, dass beide, sowohl Alex, wie auch Eduard durch Ihre Einbindung in Lokaler (und weltweiter) Gemdeinde, kaum oder keine Zeit mehr für Bloggen haben. Sie wären deutlich bessere Autoren als ich, die auch über einen viel besseren Geschmack verfügen, was zumindest christliche Literatur angeht. Ich kann meinerseits höchstens auf meine Expertise für Literatur des 19ten und frühen 20ten Jahrhunderts verweisen, das ist nun wirklich anachronistisch! Übrigens, habt ihr gewusst, dass Eduard Pastor (als Mennoniten sagen sie das Wort Pastor nicht, aber he has no choice) einer großartigen Mennonitischen Gemeinde in Weingarten ist . Ich wünschte, es wäre mir vergönnt, ein Mennonit zu sein! Und trotz des seitlichen Banners geht es unter, das Alex mit cebooks.de christliche Ebooks überhaupt marktfähig gemacht hat.

In jeder Hinsicht war es somit immer eine Adelung für mich, an NIMM-LIES mitzuwirken. Das Projekt nur deswegen zu vernachlässigen, weil es nicht dem Trend entspricht, macht mich trotzig! Mehr als 1200 veröffentlichte Artikel können nicht irren.

Ein anderer Freund fragte mich, worauf ich mich für das Jahr 2025 freue – Seit der Schulzeit bin ich getaktet darauf, dass das Neue Jahr im September anfängt, deswegen war der erste Januar nie ein wesentlich relevantes Datum für mich. Dennoch hier sei ein Ziel für das Jahr 2025 geäußert: Wieder mehr Stoff unter der Marke „NIMM-LIES“. Und um konkreter zu werden, als die aktuell infaltionären Wahlprogramme unserer lupenreiner Demokraten: Mindestens 50 Artikel und die Steigerung der Zugriffszahlen um 30% im Vergleich zu 2024. Mit Gottes Hilfe wollen wir das in einem Jahr reviewen!

Und hier mein lieber V. brauche ich deine Hilfe: Warum eigentlich keine Rezensionen schreiben? Ein Ziel könnte doch sein, ein Viertel des Workloads zu übernehmen? Dass du gut texten kannst, ist mir bereits bekannt….

Und für den Rest: Was habt ihr in letzter Zeit so Gutes gelesen?

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Hör-Tipp Für Krimiliebhaber: Kein Mucks!

Seit ich den Podcast „Kein Mucks“ von Bastian Pastewka in der ARD Audiothek entdeckt habe, habe ich mich ein ganz klein wenig mit dem Rundfunkbeitrag abfinden können. Es soll mit diesem Artikel kein Zweifel an meiner Position entstehen: Der Gebührenbeitrag in der heutigen Form ist Unrecht und nachfolgende Generationen (wenn die Welt noch stehen soll) werden uns verspotten dafür, dass wir so etwas jemals zugelassen haben.

Aber dieses Zwangs-Übel soll uns nicht davor abhalten „gute Perlen“ im Mist zu finden (und zu schätzen). Eine solche Perle ist sicherlich dieser Podcast, der nun bereits in der sechsten Staffeln angelaufen ist. Dabei werden alte Hörspielklassiker vorgestellt, die in der Zeit, als man sich abends noch zahlreich vor das Radio setzte, somit etwa der 50er,60er und 70er Jahre (das älteste Hörspiel ist von 1949) vorgestellt. Neben einigen Hintergrundinformationen zu den Sprechern, die selten zu lang werden, wird dabei immer das vollständige Hörspiel abgespielt. Zu Beginn des Podcasts wurden nur Hörspiele aus den Bremen 2 – Archiven vorgestellt, in den letzten Staffeln aber von sämtlichen Rundfunkanstalten der ARD.

Dabei werden Klassiker wie Sherlock Holmes und Dickie Dick Dickens genauso vorgestellt wie einige ausführliche Drei-Teiler (Als sehr hörenswert mit einem hohen moralischen Anteil werte ich „Feuer für eine Zigarette“).

In vielen Fällen ist die vorgestellte Geschichte nur eine von einer ganzen Serie, so z.B. „Kriminalrat Obermoos erzählt“. So das man oft Hinweise für weiteres Hörmaterial bekommt. Gelegentlich verweist Pastewka für die ganze Serie auf die ARD Audiothek, die hier aber oft nicht weiterhilft und mir scheint auch, dass einige Folgen des Podcasts nach einiger Zeit entfernt wurden! Wie gesagt, ein gewisses Zwangs-Gebühr Geschmäckle bleibt, auch darin, dass die Folgen zunächst in der ARD-Mediathek erscheinen, und erst nach einiger Zeit via Podcast-Apps aufrufbar sind.

Die Wahl der vorgestellten Hörspiele ist äußerst gelungen und reicht von kurzen Whodunits (Nachricht aus Caracas), über tatsächliche Aktennahe Fälle (z.B. Blinde sehen mehr), bis hin zu Krimi-Komödien (Der sonderbare Tag des Lord Grimsby) und Grotesken(Der Tote aus der Themse).

In vielen Fällen war ich von der hohen moralischen Qualität der Hörspiele überrascht, in besonderer Weise von „der Mörder von Griquatown“, aber auch Slesar hat immer – durch den häufig vorhandene Plot-Twist- eine lehrreiche Lektion (Der Tag der Hinrichtung und die Sache mit der freundlichen Kellnerin)

Die Hörspiele der 50er bis 70er erreichten oft ein Millionenpublikum und trotz weniger technischer Hilfsmittel und einfacher Aufnahmetechnik gelangen hier großartige Hörspiele, die auch heute sehr hörenswert sind. Jeder der Krimis mag, sollte Kein Mucks abonnieren!

Neben den oben in den Links genannten Hörspielen empfehle ich in besonderer Weise (ich habe noch nicht alle Folgen durchgehört):

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Halbzeitanalyse(a): Gewohntes Lesen

“Und niemand, der vom alten Wein trinkt, will neuen; denn er spricht: Der alte ist milder.” (Lukas 5,39)

Meine Halbzeitanalyse soll nicht nur auf glaubend.de (dort numerisch) stattfinden, sondern auch in der literarischen Welt (hier alphabetisch).

Als Leser entwickelt man irgendwann, häufig völlig unbewusst, irgendwo im „Hinterkopf“ versteckt ein Bewertungssystem für das Gelesene. In diesem Blog habe ich wiederholt versucht, diese Bewertung in Rankings darzustellen (hier, hier und hier). Bereits der Versuch einem Werk das Prädikat „lesenswert“ zu verleihen, schließt mit ein, dass man wiederholt zu diesem greifen würde und sollte. Eine Buchempfehlung ist somit auch der Ausdruck der eigenen Beziehung zu einem Werk. Dies und das empfand man kostbar, das möchte man weitergeben. Und das was ein anderer Lesen soll, das sollte man auch selbst erneut lesen. Dafür möchte ich den „Rereading-Faktor“ einführen, kürzen wir ab mit RF. Bleibt RF<1, ist das Buch nicht wert zu Ende gelesen zu werden, ist RF>1 oder gar >>1 ist ein wiederholtes Lesen Pflicht. Ein RF von z.B. 2 bedeutet, dass das Buch wert ist vollständig erneut durchgearbeitet zu werden. Übrigens kann es durchaus passieren, dass ein Buch (gerade umfangreiche Werke) je nach Kapitel oder Abschnitt einen variierenden RF bekommen. – Soweit die Theorie.

Es erscheint weise, diese Bewertung möglichst zügig zu treffen. Ein Buch, das nicht wert ist, zu Ende gelesen zu werden, kann man getrost zur Seite legen. Es ist einfach nicht genug Lebenszeit da, um sie mit schlechten oder mittelmäßigen Büchern zu verbringen. Es gibt wirklich eine ganze Menge erstklassiger Literatur. Deswegen versuche ich meine (aktive) Bibliothek so auszurichten, dass der Rereading-Faktor >=1.5 ist. Das bedeutet, ich möchte wirklich Bücher lesen, auf die ich wiederholt mit Gewinn zurückgreifen kann. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der ich den Druck verspürte ein Buch, das man anfing auch zu Ende zu lesen, egal wie schlecht es war. Aber ich denke hier liegt ein falscher Ehrgeiz vor. Gleichzeitig würde ich nicht jedes Buch verschmähen, das man eigentlich nicht wieder lesen würde. Dazu gehören eine ganze Menge an Krimis. Doch hier habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, gottlose Werke lieber früher als später zur Seite zu legen.

Mir ist klar, das ich für den „Gewohnheitsleser“ (oder vielleicht besser als Gewohnheitsleser) spreche, der ohne die Absicht einer wissenschaftlichen Analyse liest. In einer wissenschaftlichen Analyse ist es gelegentlich unumgänglich die seltsamsten Schriften penibel gründlich zu lesen, obwohl man sie langweilig, widersprüchlich findet und die vertretenen Positionen geradezu verdammt. Einmal wollte ich wissen, wie Luthers Antisemitismus tatsächlichlich gelagert war, und habe die meisten seiner Auseinandersetzungen mit dem Judentum gelesen. Seine Werke „Von den Juden und ihren Lügen“, „Shem Hamphoras“ und „die Vermahnung wieder die Juden“ kann man nur mit Entsetzen und Haarsträuben verarbeiten. Nicht lesenswert, nicht empfehlenswert, aber es war der einzige Weg sich ein eigenständiges Bild von diesem düsteren Kapitel im Leben Luthers zu machen.

Ein Beispiel für Werke mit hohem RF, die ich dieses Jahr entdeckt habe: „Kirchengeschichte“ des Eusebius, „Ten Cesars“ von B. Strauß und „Jesus and The Gospels“ von C. Blomberg.

Gleichzeitig habe ich mal wieder zu einer ganzen Menge Bücher erneut gegriffen. Erneut erneut! Mit ganz unterschiedlichen und teilweise unerwarteten Erfahrungen. Ich habe erneut zu „Darf ein Mensch sich für die Wahrheit totschlagen lassen“ von S. Kierkegaard gegriffen. Ich weiß noch, wie ergriffen ich war, als ich dieses Werk das erste Mal las, ich verfasst gleich eine euphorische Rezension. Beim erneuten Lesen wurde mir zwar klarer, warum ich damals so euphorisch reagierte, aber ich finde die Hauptthese des Werkes heute viel weniger relevant wie damals. Das erneute Lesen half mir eher mein eigenes Mindset zu reflektieren. Ich habe mich zu dieser Zeit bei jedem Widerspruch zu sehr als Märtyrer der Wahrheit gewertet. Eine ähnliche Erfahrung habe ich mit „Fürst Serebryani„(bzw. deutscher Titel manchmal „Iwan der Schreckliche“ von A. Tolstoi) gemacht. Die dort vorgebrachte These, dass man in einem zu verwerfenden System entweder irgendwann selbst Teil des Systems wird, oder zu einer handlungsunfähigen Opposition verkommt, hat mich sehr bewegt, als ich das Buch als Jugendlicher das erste Mal las. Diese These beschäftigte mich sehr. Der Versuch von Innen heraus konstruktiv zu gestalten führt zum Verkauf der Seele, und der Versuch aktiv zu widerstehen führt zur Isolation und dem Verlust der Seele. Ein unauflösbares Dilemma! So viele Jahre blieb dieses Buch für mich ein Weckruf und ich habe viele Leute erlebt, die als junge Menschen sehr wohl Feuer und Flamme für die Wahrheit waren, aber gerade in dem Alter, in dem ich mich gegenwärtig selbst befinde, furchtbare Kompromisse machten. Für ein Ämtchen, oder eine Würde oder eine Ordination oder ein bisschen Gemütlichkeit tauschte man Seele und Prinzipien ein. Ich glaube auch nach erneutem Lesen, das Tolstoi hier einen wichtigen Punkt trifft, aber es gelingt ihm nicht so gut, wie er es hätte machen können. Auch ist die literarische Qualität des Gesamtwerkes nicht so hoch, wie ich sie, entzündet vom hier dargestellten Thema zunächst übersah.

Ein anderes Erlebnis hatte ich, als ich erneut zu „Gott erkennen“ von Packer griff. Ich habe mich schon lange gefragt, woher ich einige ganz spezielle apologetische Argumentationen habe. Und als ich die Kapitel von Packer las, habe ich mich erneut erinnert, wie Packer mich geprägt hat. Erst durch das erneute Lesen wurde mir bewusst, das Packer eine prägende Person für mein Denken ist.

Ich habe auch zu „Plaudereien in meinem Studierzimmer“ von W. Busch gegriffen. Das Buch hat mich wiederholt getröstet, herausgefordert, ich fand viel Weisheit in den Gedanken von Busch. Die Menge an Glaubensvorbildern regt zum weiteren Lesen an. Für mich sind „die Plaudereien“ ein gewisses Buch der Mitte, zu dem ich immer wieder zurückkehre. Es gibt von Spurgeon ein ähnliches Werk, das mich ähnlich bewegt, wenn ich zu diesem greife (und das leider äußerst unbekannt ist): „Eccentric Preachers“.

An dieser Stelle ist es nötig zu erläutern, wie man den RF eines Werkes ermitteln kann. Ich denke hier an Parameter wie die Inhaltskonzentration (wenn wir schon bei Abkürzungen sind, nennen wir das IK) und Argumentationstiefe(AP): Werden wirklich nach Wissen und Können alle vorhandenen Fakten bei der Analyse einer Frage beleuchtet? Hat man sich der Frage/dem Thema sowohl in der Breite wie in der Tiefe genähert? Man kann sich auch die Frage stellen: Arbeitet das Buch gründlich und bleibt es umfassend? Wenn der Autor dabei auch noch fokussiert bleibt, hat man einen Schatz in seiner Bibliothek, den man hüten sollte. Irgendwie reduktionistische Sichten auf Welt, Leben oder Gott sollten vermieden werden. Ein Buch von dieser hohen Qualität wäre z.B. die Institutio von Calvin. Der Mann liefert hier Seite für Seite präzise biblische Exegese bei einer sehr umfangreichen Beleuchtung möglicher Gegenargumente und Gedankengänge, ohne sich allzu sehr in Details zu verlieren (Ich gestehe jedoch ein, dass nicht die komplette Institutio überall den gleichen RF erreicht). Jemand, der die ganze Zeit das gleiche Argument breit tritt, nimmt mich als Leser nicht ernst, oder hält mich offensichtlich für blöd (warum sonst wiederholt er sich ständig?). Und jemand anderes, der nicht gründlich auf mögliche Gegenargumente /schwierige Anwendungen/etc… eingeht, da bekomme ich beim Lesen das Gefühl, dass ich betrogen werden soll (warum sollte der Autor sonst ein offensichtliches Argument unterschlagen?). In beiden Fällen kann man nicht ein sonderlich lesenswertes Werk produzieren. Wir haben in diesem Artikel Luther bereits als negatives Beispiel aufgeführt. Aber neben seiner misslungenen Auseinandersetzung mit Juden und Widertäufern findet sich viele äußerst gelungene Auseinandersetzungen über das Evangelium: Von den Guten Werken, Wie man Beten soll, Von der Freiheit eines Christenmenschen. Was Luther im Vergleich zu Calvin an Präzision fehlt macht er durch Kreativität und überraschend angenehme Lesbarkeit wieder wett. Ich bin immer wieder überrascht, dass es mir viel einfacher fehlt Luther zu lesen, als viele Werke (die ansonsten einwandfrei sind), die eigentlich meiner Zeit näher sein sollten.

Wir können auch ein Werk wählen, das zeitgemäßer ist: „Dienstanweisung an einen Unterteufel“ von C.S. Lewis ist derart voll von Strategien des Satans Christ zu verführen, dass ich auch nach viermaligem Lesen noch nicht einmal eine Übersicht über die Verführungsstrategien habe.

Mit bestimmten Literaturgattungen muss man eine modifizierte Form des Rereadings annehmen. Dazu gehören Predigten. Mir scheint es häufig besser zu sein, nicht die gleiche Predigt mehrfach zu lesen (Achtung: es gibt Ausnahmen!), sondern lieber verschiedene Predigten aus unterschiedlichen Zeitpunkten. Bei Tim Keller wird man z.B. durchaus einen Unterschied zwischen den 90er Jahren Predigten und den 2020er Predigten finden, aber auch überraschende Parallelen. Ähnlich ist es mit klassischer Literatur. Allein die schiere Auswahl macht es häufig notwendig, dass man von guten Autoren, lieber zu einem weiteren bisher nicht bekannten Werk greift. Egal wie sehr „Brüder Karamasow“ mich beeindruckt hat, das nächste Werk von Dostojewski (oder einem russischen Autor) wird eines sein, dass ich noch nicht kenne)

Ich bin mir sicher, alle Bibelleser werden den Nutzen vom Wiederholten Lesen kennen. Kein Konzept der Bibellektüre geht davon aus, dass man mit der Bibel durch ist, wenn man sie ein einziges Mal durchgelesen hat. Tatsächlich werden die thematischen Verknüpfungen, die Schönheit der Gliederungen, Weiterentwicklungen bereits vorgekommener Themen und vieles mehr erst durch viele Male des Lesens erfasst und erfassbar. Damit möchte ich schließen: Wenn wir auch kein Werk finden sollten, dass wir für würdig halten, um es erneut zu lesen: Bei der Bibel werden wir niemals fehl liegen, sie erneut zu lesen.